Offener Brief an die Herren Präsidenten CHIRAC und WADE und an den Herrn Generalsekretär AMARA ESSY

Wir, Bürger aller Länder und aller Herkünfte, wir repräsentieren viel eher die internationale Gemeinschaft, als die Diplomaten oder die Politiker. Wir haben genug von Ihrer Doppelzüngigkeit über den demokratischen Übergang in Madagaskar und Ihrer Verachtung des madagassischen Volkes.
Wir nehmen Anstoß an der scheinheiligen amtlichen Mitteilung des Quai d´Orsay vom 6. Mai mit der verächtlichen Ladung zu einem Dakar 2 für den 13. Mai und an der dauernden Komplizenschaft der OUA mit einem abgesetzten Diktator.

Deutlichst hat die madagassische Bevölkerung seine Wahl gemacht, welche transparent durch ein unabhängiges Verfassungsgericht für gültig erklärt wurde, und die Legalität ist jetzt wieder zur Legitimität hinzugekommen, wie Sie selbst es gefordert hatten. Der Präsident RAVALOMANANA wurde entsprechend den demokratischen Regeln und unter Beachtung der strengen Förmlichkeiten, mit enormer Freude der Bevölkerung, ins Amt eingeführt.
Er hat die Anstrengung unternommen, sich mit einem Terroristen an einen Tisch zu setzen, alle ihm möglichen Konzessionen zu machen und er hat gewissenhaft die Einigungspunkte von Dakar eingehalten. Und durch den Ex-Präsidenten RATSIRAKA, der das Land teilt und erstickt und während 25 Jahren ausgeplündert hat, wurde eine systematische Verhöhnung geübt.
Trotzdem, im Namen erlogener politischer Interpretationen dieser Einigung, rufen Sie zu einem neuen Treffen nach Dakar auf, und Sie bestehen auf dem Verlangen, eine Regierung der nationalen Einheit zu errichten und auf Neuwahlen.
Bei seiner Rede zur Amtseinführung hat der Präsident RAVALOMANANA selbst zur nationalen Aussöhnung aufgerufen, die Bildung einer Nationalkonferenz versprechend. Diese Rückkehr zur nationalen Einheit kann nur erreicht werden durch ein Einbeziehen der gesamten Bevölkerung um den demokratisch gewählten Präsidenten und nicht dadurch, über das Organisieren einer Stichwahl mit dem bereits besiegten Kandidaten zu verhandeln, der nicht aufhört, all seine eingegangenen Verpflichtungen zu verleugnen.

Sie täuschen ein Ende des väterlichen Beschützerverhältnisses und der Nichteinmischung in die internen Angelegenheiten Madagaskars vor, um die Mittel der demokratischen Regierung, den kriminellen Diktator zu jagen, abzulehnen.
Es handelt sich dabei um eine unzulässige Doppelzüngigkeit, denn in der Tradition des Françafrique genieren Sie sich nicht, sich jedes Mal einzumischen, wenn es Ihnen paßt, speziell, um einen Staatschef auf seinem Posten zu halten. Und diese Nichteinmischung sollte kein Vorwand sein, um mit sauberen Händen dastehen zu wollen, angesichts des ständigen Drohens einer größeren humanitären Krise, die aus Terrorakten der Schergen des Admirals, den Sie namentlich nie verurteilt haben, resultiert.
Wir fordern auch das Ende des Neokolonialismus. Aber der erste Schritt dazu kann nur die Anerkennung der durch das madagassische Volk ausgedrückten souveränen Abstimmung sein, deren Resultate in der gewollten Form verkündet wurden durch von der Verfassung bestimmte Instanzen und durch das madagassische Höchste Gericht.

Sie wünschen, daß der demokratische Übergang in Madagaskar exemplarisch für ganz Afrika sein soll, aber Sie weisen stets die Resultate der Wahlen unter dem Vorwand zurück, daß die andere Seite sie abgelehnt hat, bei der aber Fälschungen und schlechte Absichten bewiesen sind.
Ist es exemplarisch für die Demokratie und den Rechtsstaat, ein Urteil über die Unabhängigkeit der Madagassischen Justiz zu gründen, um diese verpflichten zu wollen, Resultate zu fälschen, um als Ihr Schützling Ihren Beistand zu erhalten?
Ja, der madagassische demokratische Übergang bildet ein Exempel für die Menschheit, denn es wurde die entschlossene Haltung und die Reife des ganzen Volkes gezeigt, indem es die Gewaltlosigkeit gewählt hat und bis heute allen Provokationen widerstanden hat.
Das hat Sie dazu geführt, die Weisheit des madagassischen Volkes zu begrüßen, um ihm Honig ums Maul zu schmieren und danach seine Hoffnung zu töten. Aber diese Weisheit hat ihre Grenzen erreicht und wir bedauern, festzustellen, daß die madagassische Bevölkerung bald nichts mehr von der internationalen Gemeinschaft erwarten wird.

Sicherlich zählt sie nicht auf eine juristische Anerkennung des gewählten Präsidenten, da ja die diplomatische Tradition darin besteht, mit jeder Regierung zusammenzuarbeiten, die die effektive Kontrolle über ihr Territorium ausübt.
Nichtsdestoweniger hoffen wir, daß dieses Sie nicht dazu verleitet, die kriminelle Teilung Madagaskars anzuerkennen, dessen uralter Einheit, welcher Sie mehrmals wiederholt ihre Bedeutung beigmessen haben, auch die künstlichen kolonialen Grenzen nichts anhaben konnten.
Eine Demokratie mit zwei Gängen gibt es nicht; es ist eine geschuldete Pflicht der internationalen Gemeinschaft, das Errichten von SPERREN für die Einwurzelung einer wahren Demokratie in Madagaskar zu beenden.
Wenn Frankreich, das gerade seine eigene Demokratie retten will, seinen Ruf als Heimat der Menschenrechte erhalten will, hat es hier die einmalige Gelegenheit, dieses eine Mal eine positive Einmischung zu üben, nicht zugunsten seiner Interessen, sondern zugunsten der Sache der demokratischen Bewegung. Das ist auch die Gelegenheit für die OUA, zu beweisen, daß sie nicht nur ein Club von Staatschefs ist, die sich selbst beschützen, sondern eine internationale Einrichtung, die wirklich um den Frieden bekümmert ist.
Den 9 Mai 2002
"Das Kollektiv für Madagaskar" in Réunion
("Le Collectif pour Madagascar")





Dieser Brief ist der Madagascar Tribune vom 11. Mai 2002 entnommen.   

Der Brief in der französischen Originalversion.